Nachruf auf Fred Riedel | 1935 - 2021
Er ist da. Erste Reihe, fast in der Mitte. Er läuft an diesem 3. Februar 1968 mit Hunderten anderer protestierender Studenten über den Kurfürstendamm, ist links bei einem Mann und rechts bei einer Frau untergehakt. Ein Fotograf hat den Moment festgehalten. Das Bild befindet sich in der Sammlung der Akademie der Künste.
Fred ist da. Weil er immer da gewesen ist. Auf jedem Foto, auf jeder Vernissage, auf jedem Fest, auf dem sich die halbe kultivierte Stadt drängte, Musiker, Literaten, Politiker, Pedanten, Schönlinge, Kahlköpfe, blasierte Leute, diskrete Kenner. Unbekannte. Berühmtheiten. Und eben Fred. Ein Freund sagt: „Ob ein Ereignis von Bedeutung war, sah man daran, ob Fred erschien.“ Ein anderer Freund, Galerist, hatte eine Karteikartensammlung angelegt, auf jeder Karte ein Name und ein Hinweis, Sammler, Maler, Mäzen. Auf Freds Karte stand: „Kennt jeden Mensch der Welt persönlich.“
Aber wer kannte Fred? Wer kannte ihn über das hinaus, was alle wissen? Jetzt, da er nicht mehr da ist, kommt das Staunen über die Lücken, kommen die Fragen. Warum hat er so wenig von sich erzählt? Er hat viel gesprochen, über Dinge, die ihn interessierten. Berlin, Architektur, seine Frankreich- und Italienreisen, Musik. Er verehrte Bach, und Richard Wagner. Hatte einen Wagnerkopf, wie manche sagen, die starke Stirn, das fliehende Kinn, der muntere, der melancholische Blick. Aber niemals trug er eine lächerliche Kappe wie jener, sondern akkurat sitzende Filzhüte. Niemals buckelte er vor anderen, um sie danach auf die scheußlichste Weise zu demütigen. Doch fuhr er Jahr für Jahr nach Bayreuth und ließ die wilde, triumphale Musik in seinen schmächtigen Körper eindringen.
Zurück in Berlin, berichtete er von den Spektakeln. Gestikulierte dabei, schritt vor und zurück, gelangte immer höher von einem Punkt zum nächsten in einer verspielten Spirale. Lachte. Hatte überhaupt die größte Freude an Unsinn. Einem Freund, der ihn deutlich überragte, setzte er sich auf die Schultern, in dieser Formation schritten sie in die „Paris Bar“, orderten zwei Bier, der Kellner, ohne die geringste Bewegung im Gesicht, reichte die beiden Gläser, eins nach oben, eins nach unten. In der Dunkelheit zerrten sie einen leeren Kasten auf die Schlüterstraße, bestiegen ihn abwechselnd und deklamierten flammende Reden über irgendetwas in die Nacht hinein.
Sprach Fred nicht, hörte er zu. Fragte. Hörte weiter zu. Waren eigentlich wir es, die zu wenig von ihm wissen wollten, überlegen die Leute jetzt.
Dass er in Leipzig geboren wurde, weiß noch jeder. Doch dann wird es schon unsicher. Einer sagt, sein Vater sei Fabrikbesitzer gewesen, ein anderer, er käme aus einfachen Verhältnissen. Auf jeden Fall hat er eine Schwester, wirft jemand ein. Und zwei Nichten. Aber wie die heißen? Schulterzucken. Ein vertrauter Fremder.
Kurz vor Freds Beerdigung meldet sich tatsächlich eine Nichte. Sie lebt in Nürnberg. Und sie kann erzählen. Wenngleich es wiederum unsicher ist, ob Fred das recht wäre. Sein Vater also war Prokurist, seine Mutter Hausfrau. Er hatte eine Schwester, zwei Jahre älter, die noch lebt. Die Eltern achteten auf Bildung. Sein erstes Instrument war das Akkordeon, er spielte für die Nachbarn, am Tage, und nachts im Luftschutzkeller. Dann streifte er, derweil draußen der Höllenlärm herrschte und die anderen sich ängstlich duckten, umher, es war ihm unmöglich, still zu sitzen. Einmal standen alle Nachbarn auf der Straße, die Köpfe zum Himmel gereckt, denn hoch über ihnen balancierte Fred auf der Dachrinne des Mietshauses. Er kannte schon damals jeden in der Gegend. Als seine Mutter sich mal in der Schule nach ihm erkundigte, sagte der Lehrer: „Riedel? Den Namen habe ich noch nie gehört.“ Da war Fred über Wochen nicht zum Unterricht erschienen. Er lernte Klavier und Cello und ging 1954 nach West-Berlin. Seine Eltern und seine Schwester verließen Leipzig vier Jahre später und zogen nach Köln. Fred studierte Wirtschaft, Philosophie und Soziologie an der FU, verdiente sein Geld als Pianist im „Big Eden“, arbeitete eine Weile als Lektor in Frankfurt am Main, kam zurück nach Berlin, studierte Semiotik und Informatik, wurde Dozent und Stadthistoriker.
„Weißt du eigentlich, dass …“, fingen seine Sätze meist an. „Weißt du eigentlich, dass der Kiosk hier am Savignyplatz von Alfred Grenander stammt?“ Fred ist mit einer Freundin unterwegs. Es schüttet. Sie rennen von einem Unterstand zum nächsten Baum, landen unter dem Vordach des Kiosks. „Grenander hat die U-Bahnhöfe Wittenbergplatz und Alexanderplatz entworfen.“ Die Freundin hat den Regen vergessen, Tropfen laufen über ihr Gesicht, die Fred ihr vorsichtig wegstreicht, dann bestellen sie sich ein Getränk.
Er kannte jeden Stein in dieser Stadt, und alles, was unter diesen Steinen verborgen lag. Er schweifte umher. Er suchte. Er fand. Immer wieder kindlich überrascht. Er verharrte am 29. Mai 2020 stundenlang vorm neu aufgebauten Schloss, um zu sehen, wie Kreuz, Laterne und die acht Cherubim auf die Kuppel gehievt wurden. Er versuchte, das Schinkeldenkmal zu besteigen, um besser sehen zu können. Er hielt Vorträge, führte Gruppen durch die Stadt, gleichgültig, ob es stürmte, gleichgültig, ob ihm die Informationsblätter fast aus der Hand wehten. Ein Gedanke ergab einen neuen, der Wind fuhr durch seine Haare und durch die der Zuhörer, deren Begeisterung sich mit der seinen steigerte, der Busfahrer, der im Halteverbot wartete, hupte, aber Fred hatte eines, nur eines noch zu sagen, er schwenkte seinen Arm, wies auf ein letztes Detail, gleich, dachten alle, gleich hebt er ab, der fliegende Fred, er ist da, ganz und gar, und im selben Augenblick ist er es schon nicht mehr.
Tagesspiegel, am 17. Februar 2022
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