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Die lange Reise

Portrait: Irmgard




Irmgard Grubba springt auf. Sie erhebt sich nicht bedächtig, sie seufzt nicht. Kein Knacken in den Gliedern, kein Knirschen. Hopp, und auf, um den Tisch herum, in die angrenzende offene, geräumige Küche hinein, ein Holzstuhl geschnappt, ein, zwei, drei entschlossene Schritte, den Stuhl abgestellt vor einem Schrank.


„Ich hole nur rasch meine Reisetagebücher.“ Ein nächster Schritt, jetzt in die Höhe, hinauf auf den Stuhl, die obere Schranktür auf, die Mappe gegriffen, Tür zu, Stuhl zurück in die Küche. Das alles in gut einer Minute. Frau Grubba ist 95.


Sie schlägt die Mappe auf. Dicht mit der Maschine beschriebene Seiten: über russische Zwiebeltürme, Zedern am Ufer des Baikalsees, mongolische Jurten, ein Kloster in der israelischen Wüste, die südfranzösischen Lavendelfelder. „Wie viele Tausend Kilometer ich geflogen bin ...“ Sie schaut aus dem Fenster. Der Himmel ist hell. „Ich hab immer, hier von Elstal aus, die Flugzeuge über West-Berlin starten und landen gesehen und mir gesagt: ‚Das will ich auch.’ Wissen Sie, die Ostsee, die hätten sie mir schenken können. Ich wollte die Welt sehen.“


Irmgard Grubbas erste Reise war keine fröhliche Landpartie. Sie war beschwerlich, von Furcht begleitet, und mündete letztlich in einer Tragödie. Ihr Vater war von seiner Firma, in der Zeit zwischen den beiden Kriegen, als Grubenbauspezialist von Oldenburg in die Neumark, Westpommern, versetzt worden, wo Irmgard in einem Forsthaus geboren wurde. Die Taufe stand an, ein Taufkleid musste besorgt werden. 60.000 Reichsmark, das würde doch wohl genügen. Ach! Nicht mal für so ein bisschen Stoff reichte die Summe. Galoppierende Inflation.


Dann die Kinderjahre, die Jugendjahre. Eine Verwaltungslehre beim Landratsamt. Dann, am 1. September 1939, der Überfall der Deutschen auf Polen. Zweiter Weltkrieg. Hitlers Irrsinn. In jeder Familie die Söhne, die Väter, die nicht mehr wiederkehrten und wenn, dann verwundet, an Körper oder Seele oder beidem.Am 31. Januar 1945 verschwanden die letzten deutschen Soldaten aus der Neumark, am 1. Februar rückten die ersten sowjetischen an. Lange Trecks von Menschen, die meisten zu Fuß, armselige Karren hinter sich herziehend, bewegten sich Richtung Westen. Irmgards Familie blieb. Sie selbst, und mit ihr andere junge Frauen in ihrer Mädchenblüte, versteckten sich einige Wochen, tatsächlich Tag und Nacht, vor den Soldaten in einem Kartoffelkeller. Und krochen erst wieder heraus, nachdem die Befehlshaber der Roten Armee in den unteren Reihen durchgegriffen hatten.


Irmgard arbeitete auf den umliegenden Feldern. Aber eines Abends, als sie erschöpft zurück nach Hause kam, standen dort polnische Soldaten mit vorgehaltenen Maschinenpistolen und brüllten: „Raus, raus!“


Also raus. Ohne irgendetwas einpacken zu können. Zu dritt. Der Vater, die Mutter, Irmgard. Auf Straßen, auf Feldwegen, durch Wälder. Durst, Hunger, Angst. Unter den Menschen, die mit ihnen gingen, ein Pferdefuhrwerk. Darauf Ältere und Alte, die Gepäckbündel. Niemand wollte den Wagen lenken. Bis Irmgards Vater, der sich nicht im Geringsten mit Pferden auskannte, sagte: „Ich mache es.“ Sie liefen eine Weile weiter.


Plötzlich geriet das Fuhrwerk ins Schlingern. Der Vater verlor den Halt. Rutschte. Ein anderer sprang zu ihm, zog ihn, ein winziger Moment mehr nur, und er wäre von den Rädern, von der ganzen Last des Gefährtes mitgerissen worden. Aber eine Wunde am Kopf blieb, eine Verletzung an den Beinen. Er musste versorgt werden. In diesem Augenblick fuhr ein Wagen mit Polen an ihnen vorbei, sie nahmen den Vater auf. „Ich fahre voraus, wir sehen uns, bald, ganz bald.“ Ein Blick noch, ein letzter Blick, ein allerletzter, zu seiner Frau, seiner Tochter. Sie haben ihn nie wieder gesehen.


Zu zweit landeten sie in einem Dorf bei Rathenow. Was dem Bürgermeister, gelinde gesagt, nur mäßig zusagte. Keine weiteren hungrigen Fremden, die auch noch eine Unterkunft brauchen. „Der Chausseegraben ist breit genug“, blaffte er die beiden Verlorenen an, die weiterzogen, nach Elstal, wo eine Schwägerin wohnte, die sich nur widerwillig bereit erklärte, Irmgard und ihre Mutter aufzunehmen.


Doch letztlich blieben sie im Ort, bezogen zuerst ein einziges Zimmer und neun Jahre später eine eigene Wohnung, in der Eisenbahnersiedlung, eines in sich geschlossenen Areals, das ab 1919 für die Angestellten des Wustermarker Verschiebebahnhofs entstanden war und heute unter Denkmalschutz steht.


Irmgard begann, im Büro der Bahn zu arbeiten, und erfuhr, zwei Jahre nach dem Ende dieses grauenvollen Krieges, nach der Katastrophe, die die Deutschen angerichtet hatten, nach der eigenen Vertreibung und dem Verschwinden des Vater, dass er auf einem Friedhof im Mecklenburgischen begraben lag. Er hatte sich bis dorthin durchgeschlagen, berichtete eine befreundete Pfarrersfamilie, und war dann gestorben.


Jedes Jahr zum 1. Mai machte Irmgard sich auf den Weg zu seinem Grab. Darauf ein Fliederbusch, den sie gepflanzt hatte. „Es ist schrecklich“, sagt sie, jetzt, mit 95, „dass es nicht aufhört. Dass Menschen flüchten müssen oder vertrieben werden.“


„Waren Sie denn verheiratet?“ Frau Grubba hebt abwehrend eine Hand: „Nein! Zuerst absolvierte ich meine Ausbildung und dann kam der Krieg.“ – „Aber Sie waren noch jung, erst 22. Hier in Elstal gab es doch auch Männer.“ – „Also mir ist keiner über den Weg gelaufen. Wissen Sie, ein Mann, den ich hätte heiraten wollen, musste ja nun auch ein bisschen was im Kopf haben.“ Sie legt ihre Hand auf das Buch vor sich auf dem Tisch, ein Reisebericht über die Türkei.


Sie liest viel. Erzählungen, Romane. Vor allem aber immer wieder Bücher über die Länder, in denen sie war. „Amerika hat mich komischerweise nie interessiert. Dafür Nordafrika. Dort konnte ich auch französisch sprechen.“


Ihre letzte Reise geht nach Irland, zunächst mit dem Bus bis Rotterdam, dann weiter, aufs Schiff, bis Großbritannien und dann, von Dublin aus, immer die Küste entlang: „Herrlich!“

Jetzt, sagt Frau Grubba, verfolge sie die Routen in den Büchern und in Reisereportagen im Fernsehen. „Jetzt gehe ich nur noch spazieren, für die langen Wege bin ich zu alt.“ Nein, das Wort „alt“ scheint nun gar nicht auf sie zuzutreffen. Wie sie da sitzt, wie sie aufspringt, wie sie erzählt. So lebendig.


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