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Eher der Hosentyp

Nachruf auf Waltraud Sältzer | 1927 - 2019



Als seien es Schwestern. Wie sie beieinander sitzen auf dieser moosgrün gestrichenen Bank, Waltraud mit einem weißen wollenen Band um den Kopf, Lisbeth mit einer weißen wollenen Mütze. Beide mit hell eingefassten Sonnenbrillen, blauen Jacken gegen Wind und Wetter. Die geraden, nicht zu kleinen Nasen, die schmalen, rot betupften Lippen.


Waltraud und Lisbeth. 50 Jahre lang. 50 Jahre in einer Wohnung. Wobei jede von beiden ihren eigenen Bereich hatte, eigenes Zimmer, eigenes Bett, eigener Kleiderschrank. In Waltrauds die Hosen, Unmengen, Blusen, Jacken in schönster, nach Farbnuancen sortierter Regelmäßigkeit. In Lisbeths Schrank hingegen die Kleider vielmehr in loser Folge.


Bei aller Ähnlichkeit – die Unterschiede zwischen den Frauen verwischten nicht gänzlich. Waltraud war eher der Hosentyp, knabenhaft in der Statur (auch wenn sie im Alter mit ihrer üppiger gewordenen Figur rang), ernster, schwerer im Wesen, Lisbeth immer schon weicher, weiblicher, verspielter. Sie kannte alle Bewohner des Hauses, während Waltraud fast ein wenig stolz behauptete: „Alle kennen mich, ich kenne niemanden.“ Die eine direkt, die andere diskret.


Was man von Waltrauds Verhalten in einem Lebensmittelladen allerdings nicht behaupten konnte. Wenn sie einkaufen ging, dann exzessiv. Stunden verschwand sie in den Geschäften, schleppte Unmengen zurück, der Kühlschrank war zu klein, und Lisbeth schimpfte. Obwohl sie wusste, wo der Ursprung dieses Spleens lag, im Krieg, der Knappheit, dem Hunger.


Sie hatte als Einzelkind in Neuruppin gelebt, der Vater war auf der „Wilhelm Gustloff“ umgekommen, so die Vermutung, denn Genaueres erfuhr sie nie. Mutter und Tochter wohnten eine Weile bei den Eltern des Vaters, eine Mühsal für beide, denn die Eltern des Vaters hatten außer groben Worten nicht viel für sie übrig.


Waltraud besuchte die Handelsschule und absolvierte danach eine Ausbildung in der Ost-Berliner Verwaltung. Jeder bescheinigte ihr eine „sehr schnelle Auffassungsgabe“, ihre Vorgesetzten betrauten sie zügig mit immer verantwortungsvolleren Tätigkeiten. Bis ihnen eine Äußerung Waltrauds nicht passte, die die Autorität der Partei infrage stellte. Über Details kann leider niemand mehr Auskunft geben. Aber die stalinistische Willkür beherrschte alles. Jeder unbedacht dahingesagte Satz, jede noch so unbekümmert dahingeschriebene Zeile konnten als antikommunistischer Angriff ausgelegt werden. Mit den entsprechenden Folgen. Waltraud kam in Haft, wurde misshandelt. Und verließ die DDR.


Zur selben Zeit rief an einem anderen Ort in der DDR ein weniger strammer Vorgesetzter Lisbeth Vehse zu sich ins Büro: „Frau Vehse, es wird hier zu gefährlich für sie.“ Auch Lisbeth hatte nicht genug auf ihre Wortwahl geachtet. Auch sie ging.


So trafen sich die beiden Frauen 1951 im Notaufnahmelager Marienfelde. Und sollten sich nicht mehr trennen. Zogen zunächst zur Untermiete in ein bescheidenes Zimmer am Ku’damm. Dann in die Seitenflügelwohnung in der Prinzregentenstraße. Lisbeth arbeitete als Chemisch-technische Assistentin an der Freien Universität, Waltraud im Arbeitsamt, wo sie zur Arbeitsbereichsleiterin der Widerspruchsstelle aufstieg, über sich nur noch den Direktor.


Schien es ihr angebracht, nahm sie Widersprüche nicht nur entgegen, sondern schrieb gleich selbst zurück. Gepfefferte Briefe lagen ihr – auch jenseits ihrer Amtstätigkeit. Zum Beispiel jener an die Flüchtlingshilfe. Die verschickte nach ihrem Geschmack einfach zu viele Werbeprospekte. „Verwenden Sie das Geld, welches Sie für dieses Tränendrüsenzeug verpulvern, lieber für die Menschen, die es tatsächlich benötigen.“ In ihrer Dienststelle ließ sie Unsinnigkeiten nicht stillschweigend auf sich beruhen. Mancher mochte wohl denken, sie bestehe einzig aus Strenge. Sicher, viel geredet hat sie nicht, kam es aber darauf an, war sie zur Stelle.


Eine zweite Frau, nach Lisbeth, begriff dies sofort. Clementine Edle von Schuch, Opernsängerin, Enkelin von Richard Strauss’ „Leibdirigenten“ Ernst von Schuch, Diva in vielerlei Hinsicht, begann im Anschluss an ihre Gesangskarriere ebenfalls im Arbeitsamt. Aus der Zweier- wurde eine Dreierkonstellation, Eifersucht eingeschlossen. Bisher hatte Waltraud mit Lisbeth zusammen ihre Reisen unternommen. Jetzt aber wollte sie auch mit Clementine in die Ferien. Es klappte nicht zu dritt. Also teilte sie ihre Zeit. Fuhr, etwa nach Amrum, zuerst mit der einen, die nach zwei Wochen den Zug zurück allein nahm, und wartete dann vor Ort auf die andere.


Als Lisbeth am 6. Juni 2007 starb, brach es Waltraud das Herz. Am 29. Juni 2014 starb Clementine, und Waltrauds Herz brach abermals: „Nicht auch noch Tina!“


Sie lenkte sich ab, zeichnete, malte und fotografierte. Sie las Biografien von Helmut Schmidt und Willy Brandt, Publikationen über die Auseinandersetzung mit der Nazidiktatur. Jedem Buch fügte sie passende Zeitungsausschnitte bei. Sie hörte Musik, Jessye Norman, Christa Ludwig, Elisabeth Schwarzkopf. Sie versuchte, ihre Dinge zu sortieren, sich von Büchern und Gegenständen zu trennen, und scheiterte. Sie fuhr bis zu ihrem 90. Lebensjahr Auto, ausschließlich Citroën. Sie wollte ihre Selbstständigkeit um keinen Preis aufgeben. Wollte man ihr helfen, erwiderte sie brüsk: „Ich schaffe das allein.“ Was außerdem bedeutete: Komm mir nicht zu nah.


Sie sagte: „Ich war zufrieden mit meinem Leben.“ Und hatte noch einen Wunsch: Alle Mitbewohner des Hauses sollten nach ihrem Tod ein Fest für sie geben.


Eine Nachbarin aus dem Vorderhaus schaute jeden Tag mindestens zweimal schräg über den Hof, um zu sehen, ob morgens Waltrauds Fenster zum Lüften geöffnet war und abends das Licht brannte. Am 3. und 4. Juli 2019 war beides nicht der Fall. Im Wohnzimmer saß Waltraud in ihrem Sessel und lebte nicht mehr.


Einige Tage später stand eine lange Tafel im Hof, darauf Kuchen und Kaffee und mehrere Flaschen Crémant, und um die Tafel saßen alle Nachbarn.


Tagesspiegel, am 1. April 2020

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