Nachruf auf Elli Schulz | 1913 - 2016
Halb sechs, hopp, mit einem Satz aus dem himmelblau bezogenen Bett, drei Schritte nach vorn, die Beine hüftbreit, mit dem Oberkörper kreisen, als kurze Aufwärmübung, dann geht’s los mit dem Frühsport, hinunter auf einen flauschigen rosa Vorleger, die Beine gestreckt, die Arme durchgedrückt, und: eins, zwei, drei ... Liegestütze wie ein Brett, hoch, runter, ohne Schwanken, ohne Ächzen. „So“, sagt Elli, wieder auf den Füßen, und läuft flink ins Badezimmer, nimmt einen kleinen, runden Spiegel und eine Schere, besieht ihren Bubikopf, einige Locken springen störrisch hervor, ein gekonnter Schnitt und noch einer, auch am Hinterkopf, einmal im Monat schneidet sie sich die Haare selbst, die Friseure von heute haben ja nicht mehr das richtige Fingerspitzengefühl. „So.“ Dann geht es in die Küche, Schrank auf, Tasse raus, Caro-Kaffee, eine Vollkornstulle, Margarine, Honig, weiter in die Wohnstube, Peterle, der Kanarienvogel in seinem Käfig ist schon außer Rand und Band, „Ja, ja, du kommst auch ran“, Teller und Tasse auf dem Tisch abgestellt, „so“, eine Krume vom Brot in den Vogelbauer geschoben, dann selbst ein paar Happen, ein paar Schlucke, „so“, und weiter zum Kleiderschrank, diese Bluse heute und dieser Rock, Tasche, Jacke, Schlüssel und raus, auf die Straße. Elli rennt. Sie ist 91.
Sie kann noch rennen, weil sie, seit sie fünf ist, ihren elastischen, kleinen Körper ununterbrochen in Bewegung hält. Der Vater hatte sie und die beiden Brüder zu Artisten ausgebildet, zusammen mit der Mutter traten sie als „Die fünf Oscaris“ im Wintergarten, im Varieté Scala, im Circus Krone auf. Sie hing an einem Seil, hielt sich allein mit den Zähnen am Mundstück fest und spielte dabei Banjo, sie lag achtjährig rücklings auf dem Boden, stemmte ihre Kinderarme und Kinderknie gegen den Rücken des Vaters, der auf seinen Händen den einen und auf seinen Knien den anderen Sohn kerzengerade in der Luft hielt. „Und jetzt kommt das Allerschärfste“, sagt Elli in dem Film „Frau Schulz steht Kopf“, „Wir mussten etwas Neues rausbringen, um Engagements zu bekommen.“ Sie zeigt ein Foto: Ihre Mutter trägt auf den Schultern ein Metallgestell mit einem großen Hamsterrad, in dem Elli Runde um Runde auf dem Fahrrad dreht. Sie tanzte Ballett, spielte Akkordeon, Mandoline, Mundharmonika und Gitarre, war ausgebildete Schlagzeugerin. Sie eilt in die Küche, kommt wieder mit einem Topf, stellt ihn verkehrtherum auf den Tisch, nimmt zwei Schlägel, die Vorführung beginnt. Aber schnell ist sie unzufrieden. „Der Wirbel fehlt! Meine Trommel, die hätt’ ich behalten sollen.“ Sie startet einen zweiten Versuch. Es klingt hohl. „Ach, so’n kleener Kochtopp, da is ja kein Schwung drin.“
Sie waren immer gut gebucht, „Die fünf Oscaris“, doch dann kam der Krieg, Erich, ihr geliebter Erich kam nicht mehr zurück, sie ließ noch lange nach ihm suchen und sprach später kaum von ihrem Schmerz, eine junge Witwe, die nicht mehr durch die glitzernden Vergnügungspaläste, sondern durch Ruinen zog, hungrig und mit ihrem Akkordeon, für eine heitere Melodie ein paar Pfennige aus den Fenstern zugeworfen bekam, aber das Durch-die-Höfe-Tingeln war verboten, ständig musste man aufpassen, nicht von der Polizei erwischt zu werden. Sie begann, zusammen mit den Eltern, Mäntel zu schneidern, bis der Vater starb und die Mutter schwer krank wurde.
Elli rennt. Die Tür ihres Karlshorster Hauses fliegt auf, sie tritt hinaus, und los, die Straße hinab, um die Ecke, in langen, schnellen Schritten, plötzlich hält sie an, bückt sich, pflückt einen verblühten Löwenzahn, schaut in die Kamera, reckt den Kopf ein wenig nach vorn, pustet einmal kräftig, schaut den wirbelnden Schirmchen hinterher, der Bürgersteig ist eine Bühne. Aber keine Zeit verlieren, Blume hin, Blume her, sie hat einen Termin: Der Pfarrer wartet auf seine Behandlung.
Mit 70 hat Elli Massieren gelernt. Steife Nacken, verspannte Rücken, sie knetete und walkte die müde Muskulatur mit festen Griffen, an manchen Tagen hatte sie fünf Patienten, und der Kombucha-Trunk musste ja auch noch hergestellt werden, 15 Liter pro Woche, den sie den Leuten nach Hause brachte. „Faulheit macht ja auch müde“, sagt sie. „Man muss immer aktiv bleiben, sonst hat das ganze Leben keinen Zweck.“
Der Zweck war ihr nach dem Tod der Mutter abhanden gekommen. Sie dachte an Selbstmord und erzählte einer Bekannten davon. „Komm doch mal bei uns vorbei“, sagte die. So kam Elli zu den Siebenten-Tags-Adventisten. Sie lernte dort einen Mann kennen, heiratete „der Ordnung halber“, sagte ohne jede Frömmelei: „Ich bin ein Werkzeug Gottes.“ Und zu ihrem 100. Geburtstag: „Mein Leben, das sind 50 Jahre als Artistin und 50 als Adventistin.“
Elli rennt noch immer, ein Freund, Jahrzehnte jünger, wartet auf seine Massage, dann weiter zum Mittagessen zu einer Freundin, dann nach Hause, das Telefon klingelt, dann setzt sie sich einen Moment in ihren Polstersessel und sagt: „Wenn ich ganz allein hier bin, fang ich an zu tanzen und dann freu’ ich mich.“
Tagesspiegel, am 19. Januar 2017
Commenti