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„Ich dachte, wir Bestatter sterben nie!“

Nachruf auf Gabi Kohn (1967 - 2023)



Yasmina und Gabi. Yasmina, das angepasste, sanftmütige Mädchen, Gabi, die entschlossene, rebellische Frau. Der Beschreibung Gabis stimmen alle Freunde ohne Zögern zu. Sie war energisch, sie sagte, was sie dachte, was sie wollte. Allein ihr Kopf, der lange, gerade Hals, die dichten, dunklen Haare, der klare, zugewandte Blick hinter den großen, runden Brillengläsern. Dazu die Stimme, eine Bruststimme in Alt, die jeden weich und voll umfing. Ihr perfekter Satzbau, als könne man die Semikolons, Doppelpunkte und Anführungszeichen hören. Und dabei klang sie nie gespreizt und altmodisch, sondern höchst lebendig.

Yasmina dagegen: unsicher, unsichtbar?


Yasmina und Gabi waren ein und derselbe Mensch: Yasmina, das Mädchen, Gabi die Frau, die sich aus unguten Kindheitsumständen befreit hatte. Der Name war der Anfang, das erste, äußere Zeichen dieser Verwandlung. Von Yasmina hat Gabi ihren Freunden nur in Andeutungen erzählt. Virginia, die ältere Schwester, weiß mehr.


Die Eltern hatten sich in Berlin kennengelernt, zwei Töchter und ein Sohn kamen zur Welt. Die Mutter arbeitete als Köchin in einer Kita, in die auch ihre drei Kinder gingen. Der Vater war Maurer, kam aus Tunesien und hatte ein Alkoholproblem. Wenn er trank, wurde er gewalttätig. Er schubste und stieß und schlug die ältere Tochter, den Bruder und vor allem die Mutter. Yasmina verschonte er. Lange fehlte der Mutter die Kraft, sich von ihrem Mann zu lösen. Bis es so schlimm wurde, dass sie die Kinder nahm und mit ihnen in ein Frauenhaus floh. Nachts lagen alle in ihren Betten, weinten, hörten auf jedes Geräusch. Bis auf Yasmina. Sie schlief tief und fest.


Der Vater ließ nicht locker. Flehte seine Frau an: Komm wieder nach Hause! Ich bessere mich! Ich verspreche es! Ich schwöre es!


Die Mutter gab nach, nichts wurde besser.


Irgendwann im Jahr 1978 buchte der Vater einen Flug nach Genua und die Schiffspassage von Genua nach Tunesien, eine Ferienreise zu fünft, wie er sagte. Die Mutter war einverstanden. Als sie dann allesamt in Tunis, bei der Familie des Vaters, eintrafen, eröffnete er: „Ihr kommt hier nicht mehr raus!“ Virginia, Yasminas Schwester, erinnert sich an diesen Satz deutlich. Sie steckten fest.

Die Mutter hatte von nichts eine Ahnung. Nicht davon, dass sie in Tunesien keinerlei Rechte als Mutter besaß. Dass, juristisch, allein die Männer das Sagen hatten. Was nun? Sie richteten sich ein, so gut es eben ging. Wohnten erst bei der tunesischen Familie, zogen dann in ein Haus in Sousse, einer Hafenstadt am Mittelmeer, rund 130 Kilometer südlich von Tunis.


Yasmina besuchte eine Schule, lernte ein bisschen Arabisch, ein bisschen Französisch. Sie mochte es, bei den Frauen zu sein, bei der Großmutter, den Tanten, den Cousinen. Sobald aber Männer auftauchten, schwand die heitere Atmosphäre.


In einer Hinsicht allerdings besserte sich die Situation: Der Vater trank kaum noch, er war wesentlich weniger gewalttätig. Dennoch saß der Schreck tief. Ein halbes Jahr verging. Würden sie für immer hier bleiben müssen? Es sah ganz danach aus. Denn der Vater schlug der Mutter vor, gemeinsam nach Berlin zu fliegen, um die Wohnung dort aufzulösen, Deutschland ganz und gar hinter sich zu lassen.


Auch dem stimmte sie zu. Sie machten sich auf den Weg, die Kinder blieben bei der Großmutter. Nachdem in Berlin alles erledigt war, flog der Vater zurück nach Tunesien, die Mutter sollte ein paar Tage später nachkommen. Sie ging in ein Reisebüro, wollte den Flug buchen. Und dort, mitten unter den fremden Leuten, begann sie zu weinen. Hörte nicht mehr auf zu weinen. Eine Frau wandte sich besorgt an sie. Und die Mutter begann zu erzählen.


Es stellte sich heraus, dass diese Frau eine Frauenrechtlerin war. Sie nahm sich der Sache an, kontaktierte zwei Rechtsanwältinnen. Ein Plan wurde entworfen und schleunigst umgesetzt: Die Anwältinnen riefen Virginia, die Älteste, im Haus der Großmutter an. Sie sollte mit den jüngeren Geschwistern an einem festgelegten Tag zu einer festgelegten Stunde an einer Bushaltestelle warten. Die Anwältinnen würden sie dort abholen.


Es kam der Tag, Virginia lief mit den beiden anderen los, setze sich an den verabredeten Ort, die Anwältinnen kamen, sie fuhren zum Flughafen, bestiegen die Maschine, landeten in Berlin. Am Abend erreichte die Mutter ein Telegramm des Vaters: „Du hast gewonnen.“


Die Polizei forderte die Mutter auf, fortzuziehen und die Identität der Kinder zu verschleiern, man wisse nie, wie der Vater noch reagieren könne.

Hier endet die Geschichte der sanftmütigen Yasmina. Hier beginnt jene der entschlossenen Gabi, die sich diesen deutschen Allerweltsnamen ausdrücklich wünschte, um das Yasmina-Leben zu begraben. Wenn ihre Schwester mit ihr über die Geschehnisse damals sprechen wollte, sagte Gabi nur: „Ich kann mich nicht erinnern.“


In Bodelshausen bei Tübingen, wo die Familie nun lebte, kroch Gabi aus ihrem Kokon. Sie ging tanzen. Sie fuhr als Au-pair nach Mexiko. Sie legte sich eine Art pubertärer Pampigkeit zu. Fragte jemand: „Warum guckst du so blöd?“, pfefferte sie zurück: „Du guckst doch selbst blöd.“ Virginia sagt: „Sie war meine Lieblingsrevoluzzerin. Nichts konnte unkommentiert bleiben.“


Nach der Schule wurde Gabi Rechtsanwaltsgehilfin, arbeitete nach der Ausbildung in einer renommierten Tübinger Kanzlei, die für ihren Geschmack allerdings zu viele ohnehin Erwählte, Wohlhabende vertrat. Sie wollte lieber bei der Unterstützung derjenigen helfen, die macht- und schutzlos waren im Gewirr von Gesetzen und Verordnungen. Wechselte deshalb zu einer kleinen linken Sozietät, die sich für politisch Verfolgte und von Abschiebung Betroffene einsetzte. In Berlin, wohin sie 1996 zurückkehrte, setzte sie diese Arbeit in einem Anwaltsbüro am Mehringdamm fort. Sie spielte mit dem Gedanken, Juristin zu werden, einfach weil ihr dieser Satz vorschwebte: „Ich will die Welt retten!“ Sie schrieb sich an der Uni ein, brach das Studium nach kurzer Zeit aber wieder ab. Alles viel zu theoretisch. Sie wollte es konkret, sofort und engagierte sich im „Ermittlungsausschuss“, einer Rechtshilfegruppe, die sich um Festgenommene von linken Demonstrationen kümmert und Rechtsanwälte vermittelt, etwa für Aktivisten beim G8-Gipfel 2001 in Genua, wo Hunderttausende auf die Straße gingen und etliche der Polizeigewalt ausgesetzt waren und ohne Rechtshilfebeistand in Untersuchungshaft gerieten.


Als sie als Anwaltsgehilfin anfing, hatte sie gesagt: Ich mach‘ das 25 Jahre, dann kommt was anderes. Und es kam etwas anderes, nach 25 Jahren. Eine Freundin brachte sie auf die Idee: Wie wär’s mit Bestatterin?


Ohne es erklären zu können, hatte Gabi auf der Stelle das Gefühl, dass es genau das war, was sie wollte. Sie absolvierte ein Praktikum bei einer Bestatterin in Freiburg und war sich danach noch sicherer als zuvor.


Sie sagte, sooft es jemand hören wollte: Ich habe den schönsten Beruf auf der Welt! Natürlich kamen die Fragen: Macht es dir nichts aus, ständig mit dem Tod umzugehen? Ist es nicht erschütternd, Menschen im tiefsten Schmerz zu begleiten? Und letztlich meinten sie: Kommst du dem Tod nicht viel zu nah?

Denn er hält sich fern von unseren Wohnungen und Häusern, erscheint bevorzugt in Krankenhäusern und Pflegeheimen, gern außerhalb der Besuchszeiten. Er ist wie eine lästige Krankheit, von der sich die Lebenden nicht anstecken lassen dürfen. „Ich habe natürlich auch eine Höllenangst vorm Sterben“, sagte sie in einem Radiointerview. „Aber ich habe nicht so eine Angst vor dem Tod.“ In Mexiko hatte Gabi gelernt, dass der Tod nicht nur ein graues, furchteinflößendes Wesen ist. In Mexiko ist der Día de los Muertos, der Tag der Toten, ein Fest. Die Leute gehen auf die Friedhöfe, hören Musik, tanzen, essen, trinken, die Toten kehren für ein paar Stunden zu den Lebenden zurück.

Gabi schaute sich das oft trostlose aber teure Trauergeschehen hierzulande an. Sie wollte das alles grundsätzlich anders machen und gründete 2011 zusammen mit Kollegen ein eigenes Bestattungsunternehmen. Keine verlegenen, keine verlogenen Worte mehr in die Gesichter der Hinterbliebenen. Kein mechanisches Kondolieren. Keine phantastischen Preise. Oft rezitierte sie zwei Zeilen aus Mascha Kalèkos Gedicht „Memento“: „Bedenkt: den eigenen Tod, den stirbt man nur,/ Doch mit dem Tod der andern muss man leben.“


„Mein allererstes Ziel ist es“, erläuterte sie im Radio, „dass ich den Menschen einen guten Abschied ermögliche, in welcher Form auch immer sie Abschied nehmen möchten.“ Wenn jemand den Sarg bunt anmalen wollte – gerne! Wenn ein buddhistisches Ritual gefragt war – lasst es uns in die Zeremonie aufnehmen! Ein paarmal beantragte Gabi bei der Polizei die Absperrung ganzer Straßen, weil die Trauerzüge so lang waren.


Zeit ist vor allem wichtig, Ruhe, nicht ein hastiges Sargaussuchen, schnell, schnell ein paar Blumen, zusammengestückelte, inhaltsleere Sätze über ein ganzes Leben. Sie hörte zu. Suchte nach mutmaßlichen Wünschen der Verstorbenen, verknüpfte sie mit den Wünschen der Hinterbliebenen. Gab beiden eine Stimme. Zwischen Tod und Beerdigung vergehen oft Wochen. In dieser Zeit entstanden häufig enge Verbindungen mit den Angehörigen. Dass sie die Trauer der Menschen nicht zu ihrer eigenen machen durfte, war ihr immer klar. Sie musste sich ihnen zuwenden und zugleich den Schmerz von sich fernhalten. Wie sonst sollte sie Trost und Stabilität spenden?


Einmal war es anders. Sie begleitete eine Frau, deren Mutter gestorben war. Bei der Trauerfeier saß sie in der Kirchenbank, alle stimmten „Wer einst stirbt“ an, und Gabi dachte bei sich, dass sich dieses Lied auch ihre Mutter wünschen würde. Sie begann, schmerzlich zu weinen.


Und die alte Geschichte, als Gabi noch Yasmina war? 1992 hat sie noch einmal ihren Vater in Tunesien besucht. Es waren zwei schöne Wochen, sie lernte die neue Familie des Vaters kennen, ihre Halbgeschwister, sie lachten viel. Doch am Ende der Reise sagte Gabi: Ich komme hier nie wieder her. Ein Schlussstrich, obwohl alles gut gelaufen war. Die Gespenster der Kindheit blieben, trotz Sonne, Strand und Heiterkeit.


Der Vater starb einige Jahre später. Gabi entschied, eine Therapie zu machen, kaum jemand wusste davon. Sie zeigte sich weiter als diese energische, selbstbestimmte Person, mit der alle befreundet sein wollten. Kennt ihr euch?, fragte sie einmal ein Freund verwundert im Supermarkt und wies auf die Kassiererin. Nein, sie kannten sich nicht, Gabi hatte sich der Frau einfach nur herzlich plaudernd zugewandt.


Sehr früh am Morgen stand sie vor allen anderen auf, setzte sich mit einem Kaffee in die Küche und erledigte ihre Korrespondenz, sie war überpünktlich, sie ging vor allen anderen schlafen. Bei einer Kaffeetafel zupfte sie an allen hübsch in der Mitte aufgebauten Kuchenstücken herum und probierte ungeniert jede Sorte. Die irritierten Blicke schien sie gar nicht zu bemerken. Sie stritt sich, mischte sich ungefragt in die Kindererziehung anderer ein. Ihre Schwester erzählt, dass Gabi auch ungnädig sein konnte: Entweder sie hat jemanden bis ins Grab geliebt oder sich getrennt. Sie wollte nie mehr Yasmina sein, das angepasste, verzagte Mädchen!


Dann kam die Krankheit. Tumor, ein grauenhaftes Wort, im Französischen klingt die Konsequenz ganz deutlich mit: tu meurs, du stirbst. Gabi war ein rationaler Mensch und doch steckte da dieses magische Denken in ihrem Kopf. „Ich dachte“, sagte sie, „wir Bestatter sterben nie!“ Als sei sie, weil sie sich ununterbrochen mit dem Tod auseinandersetzte, vor ihm geschützt. Als hätte sie eine kameradschaftliche Beziehung zu ihm. Gab es denn jetzt keine Chance, mit dem alten Bekannten in Verhandlung zu treten?


Seit der ersten Diagnose im Mai 2018 hockte der Krebs in ihr, auch wenn es zwischendurch, für ein kleines halbes Jahr, so schien, als wäre er fort. Sie entschied sich noch einmal, etwas Neues zu wagen. Die Arbeit im Bestattungskollektiv hatte sie erschöpft, zu viel Papierkram, Spannungen mit den Kollegen. Jetzt machte sie ihr eigenes Bestattungsbüro auf, ein Raum in der Genezarethkirche am Herrfurthplatz, Neukölln, sie fand noch immer, sie habe den schönsten Beruf auf der Welt.


Die Chemotherapien schlugen nicht an.


Ihre Halbgeschwister aus Tunesien baten darum, noch einmal Kontakt mit ihr aufnehmen zu dürfen. Gabi überlegte eine Weile. Und stimmte dann zu.

Sie sagte einen Satz, immer wieder: „Ich hab wahnsinnig Bock, weiterzuleben!“ Und, ganz am Ende, als ihre Angst vorm Sterben doch noch gewichen war, einen letzten: „Endlich schlafen.“


Tagesspiegel, am 12. April 2023


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