Nachruf auf Marie Langenstein | 1950 - 2022
Marie sucht. Sie sucht einen Ort, an dem sie bleiben möchte. Sie sucht einen Beruf. Sie sucht einen Mann, der auch ihr Freund ist. Sie sucht Schönheit. Sie sucht Sinn.
Zuerst versucht sie, so schnell wie möglich, aus ihrem Elternhaus herauszukommen. Sie hält das nicht mehr aus, all die Kämpfe und Krämpfe ihrer Kindheit, den Vater, den Krieg und Kriegsgefangenschaft geprägt haben, der Schuhmacher ist und, weil sein Handwerk ausstirbt, von einem Ort zum anderen zieht, die Familie immer im Schlepptau. Er schweigt oder er schreit, die anderen schreien zurück oder ducken sich weg. Maries Brüder dürfen beide aufs Gymnasium, dürfen studieren, Marie, das Mädchen, nicht.
Mit 16 geht sie nach München, lässt sich zur Kosmetikerin ausbilden. Sieht die Studenten auf den Straßen, hört ihre Diskussionen, ihre Forderung, die Großväter und Väter sollen endlich sprechen, endlich sagen, was wirklich war. Marie fühlt sich zu diesen Leuten hingezogen. Sie will weiter, in eine noch größere, aufregendere Stadt und fliegt nach Berlin. Sie findet einen Job in einem Kosmetiksalon in Wedding, pflegt Gesichter und Füße. Aber das reicht ihr nicht, sie holt ihren Realschulabschluss nach und schreibt sich dann fürs Abitur auf der Schule für Erwachsenenbildung ein. Sie verpatzt eine entscheidende Prüfung, doch irgendwie macht das nichts, sie hat so viel gelernt, so viel gelesen, sie weiß, sie ist auf dem richtigen Weg. Zumindest beruflich.
Alles ist so bunt und ein bisschen verwegen
Marie wird Redaktionsassistentin beim SFB und bewirbt sich vier Jahre darauf neu, beim Kartenbüro der Berliner Festspiele. Sie arbeitet für die Berlinale, für die Organisation der 750-Jahr-Feier Berlins, für die „Kulturhauptstadt Berlin“. Alles ist so bunt und ein bisschen verwegen. Die nächtlichen Feste, Männer in Stöckelschuhen, Glitzer in den Gesichtern, Federn um die Schultern. Marie wirft sich in ein Kleid, eine Mischung aus Kittel und folkloristisch bedrucktem Seidengewand, setzt sich ein künstliches Gebiss mit übertriebenen Vorderzähnen in den Mund und schiebt komisch wankend einen Rollator vor sich her.
Privat wankt sie ebenfalls, nur nicht so komisch. Zwei Ehemänner, zwei Scheidungen. Ein dritter Mann, ein Psychologe, zerrt an ihr, sie fühlt sich ausgelaugt, verletzt. Doch dann kommt dieser Jahreswechsel 1984/85. Sie begleitet eine Freundin auf eine Silvesterfeier. Am Tresen sitzt Michael, ein bisschen verkleidet im Stil der 50er, Lederjacke, Pomade in den Haaren. Auch sie trägt eine Lederjacke, sie setzt sich zu ihm. Noch sind beide vorsichtig, und wissen doch schon, dass sie ihr Gespräch fortsetzen werden. Ende Januar des neuen Jahres treffen sie sich wieder, zufällig in einer Bar, doch dieses Mal verlassen sie den Ort gemeinsam.
Sie ziehen zusammen, sie treffen sich ab und an während der Arbeitszeit, denn Michael ist Journalist und berichtet über die Berlinale. Sie beginnen, vegetarisch zu essen, zu Zeiten, als die meisten Menschen noch darüber spotten. Sie entscheiden sich gegen ein Auto und kaufen sich Bahncards erster Klasse. Sie lesen zusammen und lachen und laufen Hand in Hand durch die Straßen. Es ist gut, das Leben, und dennoch bleibt Marie auf der Suche. Kommt plötzlich auf die Idee, Altenpflegerin zu werden, macht eine Ausbildung, arbeitet dann aber nie in diesem Beruf. Sie stellt sich unaufhörlich Fragen, macht täglich Yoga, ist aber keine kauzige Räucherstäbchentante. Sie liebt es zu kochen und zu backen, Freunde einzuladen und Familientreffen zu planen, obwohl es immer wieder knirscht zwischen ihr und ihren Brüdern. Vor allem irritiert sie der Weg des jüngeren, der den Zeugen Jehovas angehört, seine Kinder in die Sekte hineinzieht. Sie ist keine, die Konflikte sucht, aber wenn es sein muss, redet sie Tacheles am Tisch.
Sie fühlt sich zum Schönen hingezogen, Mode, Kunst, Inneneinrichtung. Lauter schöne Oberflächen. Vielleicht weil sie um die dunklen Schichten unten drunter weiß. Sie fängt an, im „Panama“ in der Tucholskystraße zu arbeiten, einer Werkstatt für handbedruckte Stoffe und Tapeten und Wände. Sie lernt die Siebdrucktechnik, die Kalligraphie, richtet sich zu Hause eine Atelierecke ein, probiert Farben und Figuren und Schriften. Immer wieder taucht ein Fisch auf ihren Bildern auf. Sie besucht einen Kurs an der Kunsthochschule in Weißensee. Sie begeistert sich schnell und lässt die Dinge dann doch wieder fallen. Sie nimmt Jobs in Boutiquen an, beraten und verkaufen, das liegt ihr. Sobald jedoch Unstimmigkeiten mit den Besitzerinnen der Läden entstehen, geht sie. Sie liest jetzt Biografien, brüchige Lebenswege, weil sie etwas von sich selbst darin vermutet.
Dann dieser Restaurantabend, 2010. Auf einmal kann sie nicht mehr sitzen, muss sich auf der Stelle hinlegen, ringt nach Luft, denkt, das ist das Ende. Elende Jahre der Suche nach einem Befund beginnen. Zig Kliniken, zig Ärzte. Zwischendurch geht es ihr wieder besser, sie arbeitet, doch die Krankheit bleibt. Schließlich eine Vermutung: Corticabasales Syndrom, eine extrem seltene Erkrankung, die das motorische System befällt und dann den kognitiven Apparat und die man sicher erst durch Autopsie bestimmen kann. Marie kann nicht mehr auf einer Rolltreppe stehen, sie kann nicht mehr Fahrrad fahren, muss sich für jeden Schritt abstützen. Das letzte dreiviertel Jahr liegt sie nur noch. Michael ist da für sie, aber irgendwann kann er kaum noch. Er bittet die Krankenkasse um Hilfe, seine Anträge werden nur schleppend bearbeitet oder abgelehnt. Marie ist nicht mehr Marie. Suchend wandern ihre Augen hin und her. Bis es aufhört.
Tagesspiegel am 17. Dezember 2022
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