Und dann hatte das Schicksal nicht mehr alle Tassen im Schrank
- tobiasskaiser
- 4. Mai
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Aktualisiert: 4. Juni
Nachruf auf Anne Lautsch | 1979 - 2025
Sie sieht ihn so kummervoll und düster an. Es ist Sommer, die Sonne zieht langsam über die Häuserwände. Sie treten ans offene Fenster. Unten auf der Straße malt ein Junge mit schnellen Strichen ein Gesicht auf das Trottoir. Seine Mutter ruft ihn, glücklich läuft er zu ihr. Von Neuem füllen sich Annes Augen mit Düsternis. Marc sagt: „Lass uns spazieren gehen. Es ist warm.“
Draußen sehen sie, wie eine Frau die Fenster putzt und sich eine Haarsträhne aus der Stirn streicht. Ein Sonnenstrahl zerspringt in der Scheibe. Eine andere Frau beginnt mitten auf der Straße zu singen. Anne lacht. Wenn sie lacht, leuchtet alles.
Aber jäh erlöschen ihre Augen wieder. Ein Falter, blassgelb, gleitet über die Straße. Sie sagt: „Er war doch noch so klein, so warm.“ Sie hören Stimmen, helles Lachen, eine Kindergruppe irgendwo. Das Erschütternde: das Fehlen von Davids Stimme in diesem Chor.
Nichts zuvor ist kummervoll und düster in Annes Leben gewesen, gar nichts. Sie und Marc hatten sich zunächst nur in Berlin gesehen, das war’s, Anne war mit jemandem zusammen, den auch Marc kannte. Eines Tages organisierte er in einer riesigen Schöneberger Wohnung eine Vernissage mit Bildern eines Malers, der inzwischen alt und aufs Land gezogen war. Musik wäre schön, dachte Marc, und Anne trommelte ihre Band aus Erlangen, wo sie ihre Kindheit und Jugend verbracht hatte, zusammen. Sie selbst spielte den Bass, ein mintfarbenes Instrument, das in einer rosa Hülle steckte. Um Mitternacht ging es los. Grunge, Neunzigerjahresachen. Anne in einem Paillettenkleid, Hunderte wirbelnde Lichtpünktchen.
Aber noch dauerte es, bis zu dieser Geburtstagsparty von Annes Freund, der mittlerweile ihr Exfreund war. Die Party dehnte sich hinein in den Morgen, Anne und Marc standen in der Tür, wollten sich verabschieden „und blieben aber aneinanderkleben“, so Marc, „trunken.“ Sie küssten sich. Sie sahen sich wieder.
Nach der dritten Nacht miteinander war Anne schwanger. Sie zog zu ihm, mit 65 Sommerkleidern und einigen Kisten voller Schuhe. Sie besuchte Geburtsvorbereitungskurse, richtete hier und da die Wohnung neu ein, half bei der Renovierung der Laube am Columbiadamm, setzte sich unter die Birnen- und die Pflaumenbäume. Und entschied sich: Unser Sohn soll David heißen. Wegen David Bowie.
Die Nackenfalte ließen sie nicht messen. „Warum nicht?“, fragte Marc. „Ich möchte kein behindertes Kind.“ Im Krankenhaus stellte man fest, das Kind befinde sich in der Steißlage, was aber nicht weiter problematisch zu sein schien. Anne wurde entlassen. Keine Irritationen – bis zu diesem Tag. Anne dachte: Er ist so ruhig in meinem Bauch, bewegt sich so wenig. Sie fuhr zum Frauenarzt, der die Herztöne maß. Marc war beruflich unterwegs. Und dann klingelte sein Telefon: „Du musst kommen. David ist tot.“
Marc raste über die Autobahn.
Sie sprachen mit der Hebamme. „Ganz in Ruhe“, sagte die. „Ihr müsst eine richtige Geburt machen.“ Anne schrie fast: „Was?“ Sie wollte, dass ihr Leib aufgeschnitten, dass diese kleine Leiche aus ihr herausgenommen wird. „Nein“, sagte die Hebamme, „es gibt einen besseren Weg.“ Am 24. August 2016 kam David im Krankenhaus Havelhöhe zur Welt.
Sie bestatteten ihn auf dem St. Matthäus-Friedhof in Schöneberg.
Marc machte sich jeden Tag auf zur Arbeit, Anne blieb liegen. Wenn er wieder nach Hause kam, lag sie noch immer, auf den Wangen Spuren ihrer Tränen. Er tröstete sie, sie begannen zu streiten. „Du trauerst nicht“, sagte sie. „Ich trauere anders“, sagte er. Er kannte sie so nicht, und sie sich selbst auch nicht, in dieser tatenlosen Düsternis.
Denn eigentlich war Anne das, was man einen Überflieger nennt. In der Abizeitung des Erlanger Gymnasiums steht: „Gute Noten, Begabtenprüfung.“ Oder: „Die Hälfte ihrer Punkte sind noch mehr als meine.“ Der Durchschnitt ihres Abiturs: 1,1 – und das in Bayern. Sie überflog einmal einen Text und merkte sich alle wesentlichen Informationen. Sie las wie eine Verrückte, schleppte zig Bücher mit in den Familienurlaub und stand schon wenige Tage später ohne Stoff da. Die drei Bände von „Herr der Ringe“ verschlang sie in einer Woche. „Ich selbst“, erzählt Marc, „brauchte ein halbes Jahr, um in den ersten Band reinzukommen.“
Sie ging täglich ins Fitnessstudio, sie jobbte in einer Bäckerei, sie änderte ständig Form und Farbe ihrer Haare, sie mochte Jeans, Pulli und Birkenstockschuhe und ebenso schillernde Outfits, sodass unter ihren Mitschülern die Frage kursierte, wie viele Kleiderschränke sie besitze.
Nach dem Abi war sie ein bisschen unentschlossen. Entschied sich dann für ein BWL-Studium. Keine Leidenschaft, reiner Pragmatismus: Da muss ich nicht in jeder Vorlesung sitzen, es wird einfach sein und schnell gehen. Es ging schnell. Trotz häufiger Abwesenheit schloss sie ihr Diplom mit 1,6 ab. Hatte nebenher immer genug Zeit, im Fitnessstudio zu trainieren und selbst Trainerin zu werden. Sie zog mit ihrer Erlanger Clique durch die Kulturszene der Stadt. Zusammen veranstalteten sie in der berlinesken Bar „Transfer“ Clubnächte, im Stil der Zwanziger zum Beispiel, Swing und Charleston bis zur Erschöpfung. Sie drehten Filme in der Manier alter Wochenschauen, einfach so, zum Spaß. Sie stand auf der Bühne in einem schulterfreien Blumenkleid, um den Hals eine Kette aus großen, bunten Perlen, und spielte ihren mintfarbenen Bass, während der Sänger die „Moritat von Macki Messer“ vortrug.
Sie studierte dann doch noch etwas anderes, Psychologie, zur Freude ihrer Eltern, die mit BWL wenig anzufangen wussten, und schloss den Magister mit 1,2 ab. Sie machte ein Praktikum in der Schule ihres Vaters, fuhr mit auf Schulausflüge, besaß diese natürliche Gabe, mit Kindern umzugehen. Kurz liebäugelte sie damit, an einer Schule zu arbeiten, der aufreibende Arbeitsalltag ihrer Eltern jedoch, die Mutter Sozialpädagogin, der Vater Rektor einer Hauptschule, ließ sie zurückschrecken.
Sie sehnte sich nach Abenteuern, Erlangen reichte nicht mehr. 2011 ging sie nach Berlin, zusammen mit ihrem Freund. Ihr Bruder lebte bereits in der Hauptstadt. Einige Zeit war er in Kolumbien gewesen und berichtete ihr von seinen Erfahrungen dort. Anne hörte aufmerksam zu und sagte dann unvermittelt: „Lass uns doch eine Firma gründen.“ Erst Zögern. Und dann: „Warum nicht.“ „Bacano“, Spanisch für großartig, cool, entstand, ein Unternehmen, das Geschäftsbeziehungen zwischen Kolumbien und Deutschland herstellte, Messebesuche, Büroräume, Import, Export. Nebenbei jobbte sie weiter im Fitnessstudio. Für zwei Jahre zog sie nach Bogotá, lernte im Fluge Spanisch, die Kolumbianer mochten sie sehr. Ab und an reiste sie besuchsweise nach Berlin.
Dann kam Marc.
Dann starb David.
Fast ein Viertel aller Paare überstehen eine solche Katastrophe nicht. Anne und Marc fuhren für eine Woche an die Ostsee und heirateten im Dezember. Im Januar wurde Anne erneut schwanger. Sie war unruhig. Bei einer Routineuntersuchung runzelte der Arzt die Stirn. Er fuhr mit dem Ultraschallgerät über Annes Bauch, wieder und wieder. Zäh dahinfließende Zeit. Endlich begann er stockend zu reden: weiße Punkte im Herzen, verkürzte Nasenwurzel. Trisomie 21, vielleicht, vielleicht auch nicht.
Sie setzten sich auf eine Bank am Olivaer Platz und sprachen. Was wäre, wenn? Hatte Marc nicht noch vor Kurzem gesagt, er wolle kein behindertes Kind? Würden sie es unbefangen lieben können?
Marc sagt: Wir waren nicht die Supertollen, die Großherzigen. Wir waren wie die meisten anderen: ein bisschen gleichgültig, sehr uninformiert. Kein zusammengebasteltes Heldentum im Nachhinein. Ganz normale Leute.
Sie erfuhren vom sogenannten „Oldenburger Baby“, Tim, der zu Beginn des 7. Schwangerschaftsmonats abgetrieben wurde, eine Spätabtreibung, die er erstaunlicherweise überlebte, mit schweren Schäden. Ein Horror, diese Geschichte, für Anne und Marc, und ein Schlüssel für ihre Entscheidung. Sie konnten doch nicht das eine Kind unter Qualen beerdigen und dem anderen, wie Marc sagt, eine Nadel ins Herz stechen und es töten lassen. Dieses Kind jetzt würde leben.
Sie machten einen Pränataltest. Und warteten. Nach ein paar Tagen rief um halb acht Uhr abends der Arzt an und sagte ein Wort: „Ja.“ Trisomie 21 also.
Anne kaufte Bücher über das Down-Syndrom, komplizierte Fachliteratur, die sie durcharbeitete, und leichte, die sie auch zum Lachen brachte, etwa den französischen Comic „Dich hatte ich mir anders vorgestellt“. Sie ging mit Marc ins „RambaZamba“, ein inklusives Theater, und war begeistert von einer Bearbeitung des Tschechow-Stücks „Drei Schwestern“.
Anfang September radelte Anne zum Frauenarzt. Der befand, dass das Herz des Babys nicht optimal schlug. Sie rief Marc an: „Ich fahre jetzt mit dem Rad ins Westend-Krankenhaus.“ – „Wie bitte? Du nimmst dir auf der Stelle ein Taxi!“ Er warf sich in sein Auto und raste hinterher. Am 5. September 2017 kam Winnie zur Welt.
Er entwickelte sich sehr gut, kam in den Kindergarten, lachte, spielte, alles normal. Anne begann sich mit dem Thema Schule zu beschäftigen. Und dachte dann: Mist. Zu wenig inklusive Schulen. Vom späteren Arbeitsleben gar nicht zu sprechen. Winnie würde ein Außenseiter werden. Ein Junge, dem man freundlich-verschämt über den Kopf streicht, ein Mann, der in einer Behindertenwerkstatt verschwindet.
Anne bündelte all ihre Energie. Gründete Initiativen, ging zu Arbeitskreisen. Sie entdeckte, dass Deutschland noch weit von den Direktiven der UN-Behindertenrechtskonvention entfernt ist, vieles bleibt halbherzig und papieren. Die meisten Kinder mit Behinderung gehen weiterhin auf Förderschulen, obwohl inklusive Bildung in Regelschulen stattfinden soll. Menschen mit Behinderung sind meist vom Arbeitsmarkt isoliert. Barrierefreiheit ist oft ein Witz. Und so weiter und so fort.
Anne lernte, wie man Kampagnen entwickelt. Wie man Forderungen so formuliert, dass sie bei den Politikern ankommen. Drei, vier wesentliche Punkte herausstellen, die auch Nicht-Behinderte betreffen, sich nicht in Details verlieren. Zum Beispiel diese Zahl: Berlin braucht 3000 neue Lehrer. Ergebnis: Die Linke hat den Punkt in ihr Wahlprogramm aufgenommen, Bündnis 90/Die Grünen engagieren sich wesentlich stärker als zuvor.
Anne stellte sich während einer Demonstration auf die Bühne, griff sich das Mikrofon und sprach, gut und klar und charismatisch, rief dann in die Menge: „Inklusion statt Selektion“, und 2000 Menschen stimmten ein, „Inklusion statt Selektion!“. Marc und Winnie schauten zu ihr hoch, sie liebten diese Frau dort oben.
Plötzlich floss alles zusammen, ihr Talent fürs Soziale, ihr Wissen um wirtschaftliche Zusammenhänge, ihre ungeheure Beweglichkeit.
Sie las alles, was sie zum Thema finden konnte. Sie wählte einen Mittelweg zwischen wissenschaftlich anerkannten Therapiemethoden, den Erkenntnissen neuer Forschung, kombiniert mit den Erfahrungen verschiedener Kulturkreise. Sie stellte ihre Ernährung um. Sie folgte in den sozialen Medien Menschen, die den Krebs besiegt hatten. Die Ärzte zeigten sich beeindruckt, nannten den Rückgang des Primärtumors „spektakulär“.
Sie würde es schaffen, aber ja, ganz bestimmt. Alle sprachen von Heilung. Und dann: Metastasen in Knochen und Leber. Sie stemmte sich weiter gegen die Krankheit. Schmerzen überall. Sie zogen um in eine weitläufige, helle Wohnung, ein großer, blau bezogener Sessel steht neben einem kleinen, weiß bezogenen. Eine neue Therapie wirkte. Sie reisten nach Frankreich und auf die Kanaren. Dann wieder der Rückfall.
Nach drei Wochen im Krankenhaus will sie nach Hause. Am 4. Februar, morgens, sagt Marc zu ihr: „Gleich fahren wir los.“ Sie lächelt. Ihre letzte erkennbare Reaktion. Um zwölf erreichen sie die Wohnung. Am Abend kommen Marc und Winnie zu ihr ins Bett, jeder auf eine Seite, und schlafen ein. Während sie schlafen, dicht an Anne geschmiegt, stirbt sie.
Zwischen Annes Grab und jenem Davids liegen 30 Meter Luftlinie.
Tagesspiegel, am 26. April 2025
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